Der Ausgang des britischen Referendums über den Verbleib des Vereinigten Königreiches in der EU vergangene Woche hat eine Vielzahl von Reaktionen und Emotionen ausgelöst – selten hat eine EU-bezogene politische Entscheidung eine derartig breite Resonanz ausgelöst. Mit einer Woche Abstand im Folgenden ein paar Gedanken zum Brexit, der Debatte im Vorfeld und im Nachgang.
Es gibt nun im Nachgang einige, die meinen dass der Erfolg der „Leave“-Kampagne nicht so überraschend kam wie es die britischen Buchmacher sowie die sich auf diese stützenden Finanzakteure und viele politikaffine Menschen in Europa wahrnehmen. Abgesehen von der „Im-Nachhinein-ist-man-immer-klüger“ Dimension dieses Punktes, die ganz offenbar auch einige Menschen in Großbritannien erfasst hat, ist hier auch inhaltlich etwas dran:
Die Folgen einer austeritätsgeleiteten Politik sind auch in Großbritannien spürbar, verstärkt seit dem Wahlsieg der Tories 2015 und der Rückkehr zur Alleinregierung ohne die Liberaldemokraten. Einschnitte in die sozialen Sicherungssysteme und ein fortschreitendes Auseinanderdriften der ökonomischen Schichten können zu einem großen Frust gegenüber dem als (neo)liberal wahrgenommenen Projekt EU führen. In Richtung einer solchen Austeritätsperspektive argumentiert beispielsweise die LSE-Soziologin Lisa McKenzie.
Das ist sicher nicht die alleinige Wahrheit, aber vielleicht ein spannendes Puzzlestück. Ein weiteres Element ist das jahrzehntelange, konsequente EU-Bashing, in dem die britische Politik (und insbesondere die Tories) zwar besonders talentiert, aber innerhalb der europäische Nationen auch nicht allein sind. Der EU-skeptische Flügel der Tories treibt David Cameron seit dessen Wahl zum Parteivorsitzenden vor sich her, nötigte ihn erst zum Austritt der Tories aus der EVP-Fraktion des EU-Parlaments, dann zu Neuverhandlungen mit der EU und schließlich zum Referendum.
Nehmen wir diese zwei Punkte für ein Schlaglicht zusammen: Teile der britischen Bevölkerung erleben seit Jahren die sozialen Folgen einer austeritäts- und liberalisierungsgeprägten Politik. Soziale Einschnitte haben insbesondere in den letzten Monaten zugenommen. Parallel dazu wird regelmäßig und von verschiedenen Seiten die Erzählung vorgetragen, wonach die EU als Ganzes, die Kommission oder wahlweise auch nur die EU-Bürokratie als Abstraktum hauptverantwortlich sind für unpopuläre Entscheidungen, Veränderungen und soziale Einschnitte.
Damit soll nicht gesagt werden, dass die EU nicht in vielerlei Hinsicht kritikwürdig ist (dazu später mehr). Aber auf dieser gesellschaftlichen Grundlage ein Referendum abzuhalten mit dem Ziel, wahlweise mit „Remain“ zu gewinnen und Ruhe in die eigene Partei zu bringen (Cameron) oder mit „Leave“ knapp zu verlieren und sich die beste Ausgangsposition für die Nachfolge Camerons 2018/19 zu verschaffen (Johnson), verdient andere Attribute als nur „mutig“.
Neben der sozio-ökonomischen Ausgangslage einzelner Gesellschaftsschichten ist ein weiterer Punkt von Bedeutung: Die Art und Weise des Wahlkampfes und seine populistischen Ausschläge. Die „350-Millionen-Pfund/Woche“ Argumentation der „Leave“ Kampagne wurde bereits ausgiebig auseinandergenommen und am Tag nach dem Referendum auch schon schrittweise wieder eingefangen. Aber verfangen hat das Argument trotzdem – sicherlich besonders stark bei Menschen, die eine bessere Ausfinanzierung des nationalen Gesundheitssystems (wie von der „Leave“ Kampagne angekündigt) mit dem eingesparten EU-Geld als besonders wichtig wahrnehmen, weil sie auf dieses System zunehmend angewiesen sind und spüren wie unzureichend es ist. Ein möglicher Baustein zur Erklärung der deutlichen Mehrheit für „Leave“ bei den über 65 jährigen.
Man kann nun argumentieren, dass die Briten die falschen Argumente, Übertreibungen und Prognosen hätten durchschauen können, ja sollen. Dass man manche Dinge durch einfache Recherche herausfinden könnte. Aber das wäre meines Erachtens zu leicht und ließe die Machtmechanismen einer medialen Öffentlichkeit und die Wirkmacht einer populistischen, vereinfachenden Kampagne außer Acht. Mit dem Vorwurf der Täuschung und der Entmündigung der britischen Bürger muss die „Leave“ Kampagne leben und sich auseinandersetzen.
Eine wichtige Unterscheidung: Man kann durchaus Punkte für den EU-Austritt finden, für sie eintreten, auf ihnen eine Wahlentscheidung fußen. Man kann am Ende eines Abwägungsprozesses zu dem Ergebnis kommen, dass der Deal „Binnenmarktzugang für Grundfreiheit von Kapital, Waren, Dienstleistungen und Personen“ nicht die beste Variante für Großbritannien ist – mit allen Konsequenzen dieser Position. Ein Bashing á la „Leave = wahlweise verrückt/unwissend/rückwärtsgewandt“ hilft hier sicher nicht.
Meine Kritik ist an diesem Punkt weniger das Ergebnis des Referendums als der Prozess seiner Debatte. Diese war nämlich in ihrer Unwahrheit und Überhöhung, ihren persönlichen Angriffen und Unterstellungen, ihrer Aufstachelung und Unsachlichkeit ganz und gar nicht geeignet als Grundlage, um ein solches Thema zu debattieren und am Ende eine Entscheidung im Bewusstsein ihrer Konsequenzen zu treffen.
Das führt zum dritten Gedanken, der über das Referendum hinausgeht und ein spannendes Licht auf die Mechanismen direkter Demokratie wirft. Wenn wir annehmen, dass ein möglichst hierarchiefreier, umfassender und sachorientierter Diskurs die Grundlage bildet für demokratisch ausgeübte Souveränität in Form direktdemokratischer Elemente, dann war diese Grundlage beim Brexit-Referendum nicht vorhanden. Vielleicht weil die Frage zu groß, zu abstrakt und zu komplex ist für eine Ja/Nein Frage. Vielleicht, weil eine institutionelle und historische Einbettung direktdemokratischer Praktiken wie in der Schweiz fehlt. Vielleicht aber auch, weil eben der Versuch, politische Fragen auf ein Ja/Nein Schema herunterzubrechen, sie mittels einer mehrheitsgeleiteten Entscheidung irreversibel abzuschließen, eine enorme Anfälligkeit für Populismus bietet und konträr zu einem parlamentarischen, kompromiss- und abwägungsorientierten Demokratieverständnis läuft. Diese Frage wird an anderer Stelle konkreter zu beleuchten sein, aber für den Augenblick bleibt ein Misstrauen, ein Unwohlsein gegenüber dem Mechanismus der Volksabstimmung.
Im konkreten Fall des Brexit wird dieses Problem verschärft durch die unklare Bedeutung des Referendums für den politischen Prozess – die Beziehung zwischen Volksvotum und parlamentarischer Entscheidungshoheit ist nicht wirklich geklärt, und sollte eine der Kammern des britischen Parlamentes oder eines der Regionalparlamente das Ergebnis der Volksabstimmung (aus inhaltlich verständlichen Gründen) nivellieren wollen, wird die Akzeptanz des politischen Systems massiven Schaden nehmen. In der Theorie wissen alle um die negativen Auswirkungen von „Scheinpartizipation“, in der (innerparteilichen) Realität ist dieses Wissen scheinbar noch nicht angekommen.
Zusammengefasst: Zwei Punkte lassen die Überraschung des Brexit weniger überraschend wirken. Zum einen die Tatsache, dass ausgeprägte sozioökonomische Ungleichheit gepaart mit bewusst gepflegtem EU-Skeptizismus keine gute Grundlage für direktdemokratische Experimente von solcher Tragweite sind. Zum anderen die Beobachtung, dass populistische und polarisierende Dynamiken einen echten Diskurs unmöglich machen – und eine geografisch, politisch und demografisch tief gespaltene Gesellschaft hinterlassen. Daraus folgt im dritten Punkt die Erkenntnis, dass über direktdemokratische Elemente und ihre Einbindung in parlamentarische Systeme weiter nachgedacht werden muss – vielleicht sogar noch mehr als bisher angenommen.
Jetzt kommt aber noch ein vierter Punkt: Warum hat das Ergebnis dann so überrascht? Warum geht es mir, den Menschen in meinem Umfeld, gefühlt einer ganzen europäischen Generation so nahe? Sicher nicht nur, aber auch weil dank einer tiefer gewordenen europäischen Vernetzung die Konsequenzen für viele von uns direkt oder im Freundes- und Familienkreis spürbar und greifbar sind. Aber auch, wie ich glaube, weil hier die Selbstverständlichkeit der europäischen Einigung, ihrer voranschreitenden Integration plötzlich und heftig infrage gestellt wird. Berührt wird hierbei eine offensichtlich doch schon existente europäische (Teil)Identität. Ins Wanken geraten Sicherheiten und Selbstverständlichkeiten, insbesondere für jüngere Generationen, die beim ersten britischen EU-Votum oder den Abstimmungen zur europäischen Verfassung noch nicht geboren oder noch nicht vollständig politische sozialisiert waren.
Mag sein, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs gerade keinen Bedarf für Debatten um weitere Vertiefungen, für europäische Konvente sehen. Ich würde mir angesichts dieser infrage gestellten Selbstverständlichkeiten durchaus Konvente wünschen – viele Konvente, europaweit, die nicht auf ein „Ja/Nein“ hinauslaufen, sondern Fragen nach dem „Wie“ einer Europäischen Union in den Mittelpunkt stellen; Konvente, in denen die verschiedenen Modelle vom Europa der Regionen über das Europa der zwei Geschwindigkeiten bis hin zum Staatenbund neu betrachtet und diskutiert werden – unter anderem von eben jener europäischen Generation, die momentan vieles ist, aber vor allem überrascht.