Wer war Ernst-August Dölle? Auf den Spuren einer Ikone der deutschen Nachkriegsgeschichte

Ich will nun die folgenden Zeilen einer Person widmen, die die Menschen hierzulande auf ganz mannigfaltige Weise berührt hat, deren Name jedoch droht in Vergessenheit zu geraten. Die Rede ist von dem großen Verstorbenen Ernst-August Dölle, der im Jahre 1972 viel zu früh das Reich der Lebenden verließ.

Inzwischen sind über 40 Jahre ins Land gegangen, seitdem ihm eine Gruppe von Bewunderern, Wegbegleitern und ihm in kollegialer Weise Verbunden eine Gedenkschrift gewidmet hat, die ihresgleichen sucht. Das Erbe dieses Universalgelehrten, mit dieser Titulierung können sich wenige Persönlichkeiten des neuzeitlichen Abendlandes schmücken, an dieser Stelle braucht er den Vergleich zu Max Weber nicht zu scheuen, hat aber kaum Erwähnung in der sonst so bewegten deutschen Nachkriegsgeschichte gefunden, weswegen ich der Reverenz all jener, die sich dem großen Verstorbenen noch in großer Verbundenheit fühlen,  in diesen Zeilen Ausdruck verleihen will. Der große Verstorbene ruft gänzlich differente Assoziationen hervor, was dieses Vorhaben umso neuralgischer wirken lässt. Der Versuch, das Werk des großen Verstorbenen zu erfassen, führt aber zwangsläufig an jene Stätten, die mit seinem Wirken beschenkt wurden. 
Die Suche beginnt also in seinem Geburtstort Celle, wo er im Jahre 1898 das Licht der Welt erblickte. Die Beschaulichkeit dieses Städtchen im östlichen Niedersachsen lässt erahnen, warum Dölle fernab von jeglichem Trubel eine friedliche Kindheit verbringen durfte. Wem allerdings die Erwartung zuteil ist, dem großen Verstorbenen wäre ein ihm gebührendes Denkmal auf dem Marktplatz, zumindest aber an zentraler Stelle gewidmet, der wird der Tatsache mit Verwunderung begegnen, dass das Stadtbild frei solcher Memoriale ist. 
Dölle und die akustische Dominanz des Waldes
Wo könnte in diesen Gefilden dann ein Zeichen Dölles gefunden werden? Von seiner Jugend wird berichtet, dass Dölle lange Spaziergänge zu machen pflegte. Die angrenzende Lüneburger Heide bot dem noch ruhmlosen Dölle dazu reichlich Potentialität. Jedoch wissen wir, dank des erhellenden Beitrages von Thomas Ellwein, dass Dölle den Wald der Heide vorzog: „Objektiv lässt sich Heide nur vom Wald erfahren“(Ellwein 1974: 43). Wer Dölle erfahren will, muss also den Wald ringsum Gifhorn erfahren. 
Dölle hat sich gewissermaßen in den Wald hineingelebt. Da der Wald sich eher „dem Ohr als dem Auge“ (Ellwein 1974: 46) eröffnet – man kann hier tatsächlich von einer akustischen Dominanz des Waldes sprechen -, lässt sich erahnen, warum der Wald eher als die Heide der präferierte Erholungsort Dölles war. An dieser Stelle sind Vermutungen jedoch eher angebracht, als Gewissheiten, dass Dölle der geniale Einfall für seine Theorie der binauralen Rivalität während einer jener akustisch dominierten Waldspaziergänge kam.
Dölle und die süddeutsche Heiterkeit
Vom Wald über Berlin und Greifswald, wo er seine Zwischenstationen zur Habilitation in Psyochologie, die er, was vermutlich nicht auf viel Verwunderung stößt, mit cum laude abschloss, durchlief, führt der Weg nach Konstanz, wo er nach seiner Habilitation an die Wirtschaftshochschule berufen wurde. Die süddeutsche Leichtigkeit und prinzipiell die ausschweifendere Lebensweise der Bodenseestadt und die Ferne der Heide oder besser gesagt, des Heidewaldes, machten Dölle, der zweifellos von norddeutschem Charakter war, wohl anfangs zu schaffen und ließen die Vorstellung, dass er bis zu seiner Emeritierung, ja sogar bis zu seinem Tode, in dieser Stadt verweilen würde, umso unwirklicher erscheinen. Gleichzeitig ist jedoch anzumerken, dass „die Disposition des Scherzens bei aller Disposition zur ernsthaften Verhaltenheit [ihm] keineswegs fremd war“ (Hermmann 1974: 12), weswegen die Vorstellung seines Verweilens in einer von mehr Humor geprägten Gegend, als dies auf seine norddeutsche Heimat zutreffen würde, gleichwohl viel von ihrer Unwirklichkeit verliert.
Wen es einmal in seinem Leben nach Konstanz verschlägt, wird verstehen, warum dieses Stadt nach anfänglichen Anfreundungshemschwellen Dölle nicht mehr los ließ. Hier fand er die Bedingungen, die er benötigte um sein wissenschaftliches Genie, das sowohl in methodischer als auch inhaltlicher Weise nur als gelebte Polyvalenz beschrieben werden kann, vollends ausleben konnte und die Wirtschaftshochschule sowie die Wissenschaft im Gesamten mit zahlreichen Erkenntnissen und Theorien bereichern konnte. Es wird deshalb kaum auf Verwunderung stoßen, und ein Jeder kann sich von dieser Tatsache persönlich überzeugen, dass der Geiste Dölles in der Hochburg seines Schaffens am deutlichsten zu spüren ist.
Dölle und die Zweiheit der Dinge
Nachdem nun den Spuren, die Dölle auf der Landkarte Deutschlands hinterlassen hat, ausreichend knapp Widmung zugekommen ist, will ich mich nun seinen Spuren, ja man müsste wohl, um in diesem Bild zu verweilen, von gigantischen Landmarken sprechen, zuwenden, die er in der Wissenschaftslandschaft hinterlassen hat. Da der große Verstorbene in nahezu allen Wissenschaftsbereichen gewirkt hat, will ich versuchen, mich auf die wichtigsten Erkenntnisse seinerseits zu beschränken, ohne jemals die Behauptung in den Raum stellen zu wollen, die an dieser Stelle nicht erwähnten Beiträge Dölles hätten weniger Relevanz für Wissenschaft und Gesellschaft. Durch seine wissenschaftlichen Erkenntnisse zieht sich durchweg das Motiv der Zweiheit der Dinge, ob man sie jetzt Duplizität und Dichotomie nennen will, wie es Hermann et. al. in ihrer Gedenkschrift getan haben, oder aber Dualität beziehungsweise Dialektik, soll an dieser Stelle nicht von Belang sein.
Um die Zweiheit der Dinge geht es auch in der Theorie der binauralen Rivalität. Wem diese bahnbrechende Theorie nicht bekannt sein sollte, was wirklich nur auf einige Wenige zutreffen dürfte, da die binaurale Rivalität den Weg in den Bereich gefunden hat, der gemeinhin als Allgemeinwissen tituliert wird, denen seien die folgenden erklärenden Zeilen gewidmet. Dölle hat unser Verständnis, wie wir Gehör beziehungsweise Hören verstehen, revolutioniert. Bei einem seiner vielen tonpsychlogischen Laborversuche stellte er fest, dass die akustischen Signale, die den Gehörgang entweder durch das linke oder das rechte Ohr erreichen, dem Subjekt in verschiedener Weise als Ton beziehungsweise Geräusch erscheinen. Wenn also beide Ohren zwei sogenannten akustischen Rivalen, also unterschiedlichen Tönen ausgesetzt werden, dann differenziert die akustische Wahrnehmung des Subjekts ebenfalls, die akustischen Rivalen bilden also eine Rivalität im Gehör. Folgende Überlegung drückte Dölle wie folgt aus: „…dass beim binauralen Hören in der kontrollierten Experimentalsiatuation des Rivalisieren der beiden Ohren einen Kompromiss zugeführt wird und daher empirisch nur ein Empfindlichkeits-Maximum nachweisbar ist…Das empirische Beobachten eines Kompromisses (post factum) ist der unzweifelbare Beweis für eine vorhegegangene Rivalität (ante factum)“ (Stapf 1974: 118). Dieser Leitsatz der binauralen Rivaltiät wird inzwischen in nahezu jedem Hörsaal, ja sogar in vielen Klassenzimmer zitiert. Diese Tatsache allein stellt eine Würdigung Dölles Werkes dar, die ich dem geneigten Leser in dieser Abhandlung niemals eröffnen könnte.
Dölle und die Leugnung seiner Existenz
Da ich nun das Wirken des großen Verstorbenen, zwar längst nicht in erschöpfender Weise angesichts des immensen Schaffen Dölles, aber doch in einer des Formats angemessenen knappen Ausführlichkeit, dargestellt habe, will ich mich nun abschließend einer umso verwunderlicheren Tatsache widmen. Einige, wohl nicht mit gesunden Menschenverstand Gesegnete, bezweifeln immer noch, dass Dölle jemals gelebt hat. So behauptet beispielsweise ein ihm gewidmeter SPIEGEL- Artikel (DER SPIEGEL 48/1974: 162f), Dölle hätte es nie gegeben. Eine ähnliche Vermutung hegen die Autoren seines Wikipedia-Eintrags. Über die Qualität dieser Plattform wurde an anderer Stelle schon zu Genüge berichtet, weswegen ich über diese Webseite, deren Informationsgehalt einer Tupperdose gleichkommt, keine Worte mehr verlieren will. Dölle, der sich ja selbst ausgiebig zu dem Positivismusstreit geäußert hat (siehe Albert 1974), würde sich hier in seinen wissenschaftstheoretischen Anschauungen sicherlich bestätigt fühlen.
Es geht hierbei um nicht weniger als die Deutungshoheit über Dölles Leben und Schaffen. Die Proponenten seiner vermeintlichen Nicht-Existenz führen ins Feld, Dölle sei eine Erfindung einer handvoll angeheiterten Professoren an einem feuchtfröhlichen Abend in Alpbach, die ihm eine Gedenkschrift widmeten und ihn so zum Leben erweckten. Warum aber bildet die Person Dölles den Diskussionsnukleus und nicht das Wissen, das er generiert hat? Der Diskurs um Dölle sagt viel über den Zustand des Forschungs- und Lehrbetrieb aus, der durch Personenbezogenheit und Kleinfehden einzelner Lehrstühle gekennzeichnet ist. Das galt für die Wissenschaft zu seinen Lebzeiten, wie es auch heute noch gilt. Wer sagt, Dölle hätte nie gelebt, der hat ein sehr physische Vorstellung von Lebendigkeit, doch lebendig ist nicht nur was lebt, sondern auch die Phantasie, mit der wir die Welt zu der machen, die sie ist oder zu der, die sie sein soll. In Gedenken an Ernst August Dölle.
Herrmann Bild1(1974): Dichotomie und Duplizität. Grundfragen psychologischer Erkenntnis. Ernst August Dölle zum Gedächtnis. Bern, Stuttgart, Wien: Verlag Hans Huber

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